Broschüre zur Diskriminierung behinderter Menschen
in Deutschland
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen hat eine
Broschüre herausgegeben zum ALLGEMEINEN GLEICHBEHANDLUNGSGESETZ
(AGG) aus Sicht von Menschen mit Behinderungen.
Hier der Text der Broschüre:
Karin Evers-Meyer, MdB Beauftragte der Bundesregierung für die Belange
behinderter Menschen:
„Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz setzt ein wichtiges Zeichen für eine
moderne und tolerante Gesellschaft.“
Diskriminierung in Deutschland
Die genaue Anzahl von Diskriminierungen behinderter Menschen in Deutschland
lässt sich nicht benennen. Die meisten Fälle liegen nach wie vor im Verborgenen.
Beim Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter
Menschen ist in den vergangenen zehn Jahren jedoch eine große Zahl von Fällen
bekannt geworden, die einen umfassenden und gleichzeitig erschreckenden Blick auf
den Diskriminierungsalltag behinderter Menschen in Deutschland zulassen. Die
Beispiele reichen von der Verweigerung der Mitnahme in einem Taxi, über die
Nichtbedienung in Restaurants bis hin zu schwerwiegenden und folgenreichen
Diskriminierungen im Berufsleben und beim Abschluss privater
Versicherungsverträge.
Einige aufschlussreiche Zahlen liegen bereits heute vor: So zeigen Untersuchungen,
dass Menschen mit Behinderung überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind. Die
Arbeitslosenquote behinderter Frauen betrug 1999 15 Prozent, die behinderter
Männer 16,7 Prozent. Die Erwerbslosenquote der Menschen in der Altersgruppe von
55 bis 60 Jahren liegt für behinderte Menschen sogar bei 23,7 Prozent gegenüber 19
Prozent bei Nichtbehinderten.
Darüber hinaus haben empirische Untersuchungen häufige Belästigungen und ein
hohes Ausmaß sexueller Übergriffe bei Menschen mit Behinderung gezeigt. Das
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weist in seiner
Broschüre „Einmischen – Mitmischen“ (2003) darauf hin, dass Frauen und Mädchen
mit Behinderung ein besonderes Risiko tragen, Opfer von sexueller Belästigung
sowie Gewalt zu werden, sie sind davon doppelt so häufig betroffen wie nicht
behinderte Frauen.
Neben den individuellen Schutzwirkungen zugunsten der von Diskriminierung
Betroffenen wird mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vor allem eine
Signalwirkung im Hinblick auf alle Diskriminierungsmerkmale angestrebt. Das Gesetz
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ist Ausdruck des politischen Willens, eine Kultur der Vielfalt und gegen
Diskriminierung in Deutschland zu schaffen.
Dazu gehört vor allem, die Gesellschaft für die Problematik der unbeabsichtigten,
aber auch der strukturellen Diskriminierung zu sensibilisieren.
Wer ist geschützt?
Der Begriff der „Behinderung“ im AGG entspricht den Definitionen im
Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) und im Behindertengleichstellungsgesetz
(BGG): Danach sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Mit diesem sozialrechtlich
entwickelten Begriff werden sich die meisten Sachverhalte der ungerechtfertigten
Benachteiligung behinderter Menschen auch im Anwendungsbereich dieses
Gesetzes erfassen lassen.
Wann wurde ich diskriminiert?
Das AGG kennt unmittelbare und mittelbare Diskriminierung. Eine unmittelbare
Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person eine weniger günstige Behandlung erfährt
als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder
erfahren würde. Eine Diskriminierung kann auch in einem Unterlassen liegen. Die
Diskriminierung besteht in einer Zurücksetzung, die aufgrund der Behinderung erfolgt
ist. Die benachteiligende Maßnahme muss also durch die Behinderung motiviert sein
bzw. der Diskriminierende muss bei seiner Handlung hieran anknüpfen.
Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale
Vorschriften, Maßnahmen, Kriterien oder Verfahren Personen oder
Personengruppen, bei denen eine Behinderung vorliegt, in besonderer Weise
gegenüber anderen Personen oder Personengruppen benachteiligen, bei denen
keine Behinderung vorliegt. Der Diskriminierte muss von der mittelbaren
Diskriminierung konkret betroffen sein bzw. es muss eine hinreichend konkrete
Gefahr bestehen, dass ihm im Vergleich zu Angehörigen anderer Personengruppen
ein besonderer Nachteil droht.
Darüber hinaus definiert das Gesetz auch den Begriff der Belästigung als eine Form
von Diskriminierung. Wesentlich ist die Verletzung der Würde der Person durch
unerwünschte Verhaltensweisen, insbesondere durch das Schaffen eines von
Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen und
Beleidigungen gekennzeichneten Umfeldes. Belästigendes Verhalten kann sowohl
verbaler als auch nonverbaler Art sein. Hierunter können z. B. Verleumdungen,
Beleidigungen und abwertende Äußerungen, Anfeindungen, Drohungen und
körperliche Übergriffe fallen, die im Zusammenhang mit einer Behinderung stehen.
Wobei bin ich geschützt?
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Der Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erstreckt sich für Menschen
mit Behinderungen im Wesentlichen auf die Bereiche Arbeitsmarkt/Berufsleben,
Massengeschäfte und private Versicherungsverträge.
Arbeitsmarkt/Berufsleben
§ 7 AGG enthält das zentrale Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.
Die Vorschrift spricht ein generelles Verbot der Benachteiligung von Beschäftigten
wegen einer Behinderung aus. Danach ist jede Diskriminierung bei Begründung,
Durchführung und nach Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses eine
Verletzung vertraglicher Pflichten. Das Diskriminierungsverbot richtet sich neben dem
Arbeitgeber auch gegen Arbeitskollegen und Dritte, wie z. B. Kunden des
Arbeitgebers. Das Gesetz stellt ausdrücklich klar, dass sein Geltungsbereich auch
Bewerber und Bewerberinnen um ein Beschäftigungsverhältnis und solche Personen
umfasst, deren Beschäftigungsverhältnis bereits beendet ist, bei denen aber noch
nachwirkende Folgen wie z. B. bei der betrieblichen Altersvorsorge eintreten können.
Erfasst ist darüber hinaus der Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der
Berufsberatung, Berufsbildung einschließlich Umschulung etc. sowie die
Mitgliedschaft und Mitwirkung in berufsbezogenen Vereinigungen auf Beschäftigtenund
Arbeitgeberseite.
Für Menschen, denen auf Grund des SGB IX eine arbeitnehmerähnliche Stellung
zukommt, insbesondere die in Werkstätten für behinderte Menschen Beschäftigten
und Rehabilitanden, finden die Regelungen dieses Gesetzes entsprechende
Anwendung. Berücksichtigt wird auch die Situation von Beschäftigten, die zur
Arbeitsleistung an einen anderen Arbeitgeber überlassen werden, indem der die
Beschäftigten überlassende Arbeitgeber auch als Arbeitgeber im Sinne dieses
Gesetzes gilt.
Ausnahmen zum Diskriminierungsverbot regelt § 8 AGG. Danach soll eine
unterschiedliche Behandlung dann zulässig sein, wenn wesentliche und
entscheidende berufliche Anforderungen dies erfordern. Eine Ungleichbehandlung
kann aber nicht durch Erwägungen der bloßen Zweckmäßigkeit zulässig werden.
Vielmehr muss die an den Beschäftigten gestellte Anforderung erforderlich sein und
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen beruflichem Zweck und Schutz vor
Benachteiligung standhalten.
Massengeschäfte
Menschen mit Behinderungen sind künftig gemäß § 19 AGG bei den wesentlichen
Geschäften des Alltags vor Diskriminierung geschützt. Dazu zählen solche
Geschäfte, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren
Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder
bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine
nachrangige Bedeutung hat.
Es muss sich um Schuldverhältnisse handeln, die typischerweise „ohne Ansehen der
Person“ und „zu gleichen Bedingungen“ begründet, durchgeführt und beendet
werden. Die Diskriminierung unterscheidet sich von der durch das Prinzip der
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Vertragsfreiheit gedeckten erlaubten Differenzierung dadurch, dass willkürlich und
ohne sachlichen Grund einzelnen Personen der Zugang zu einer Leistung verwehrt
oder erschwert wird, die ansonsten anderen Personen gleichermaßen zur Verfügung
steht. Ein Schuldverhältnis wird ohne Ansehen der Person begründet, durchgeführt
oder beendet, wenn das Merkmal Behinderung typischerweise keine Rolle spielt.
Insbesondere im Bereich der Konsumgüterwirtschaft und bei standardisierten
Dienstleistungen kommen Verträge typischerweise ohne Ansehen der Person
zustande: Im Einzelhandel, in der Gastronomie oder im Transportwesen schließen die
Unternehmer im Rahmen ihrer Kapazitäten Verträge ohne weiteres mit jeder
zahlungswilligen und zahlungsfähigen Person.
Erfasst sind grundsätzlich auch Wohnraummietverträge. Es wird vermutet, dass die
Vermietung von Wohnraum jedenfalls dann ein Massengeschäft darstellt, wenn der
Vermieter mehr als 50 Mieteinheiten vorhält. Im Einzelfall kann aber auch bei einer
geringeren Zahl von vorgehaltenen Mieteinheiten ein Massengeschäft angenommen
werden.
Nach § 20 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung ausnahmsweise zulässig, wenn
ein sachlicher Grund vorliegt. Das Gesetz nennt exemplarisch einige Beispiele einer
zulässigen unterschiedlichen Behandlung. Dazu gehören die Vermeidung von
Gefahren und die Verhütung von Schäden. Der Vermeidung von Gefahren, der
Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art kann die
unterschiedliche Behandlung aber regelmäßig nur dienen, wenn sie zur
Zweckerreichung grundsätzlich geeignet und erforderlich ist. Willkürliche
Anforderungen sind davon nicht gedeckt.
Private Versicherungsverträge
Neben den Massengeschäften bezieht das Gesetz ausdrücklich alle privatrechtlichen
Versicherungsverhältnisse in seinen Schutzbereich mit ein. Versicherungen decken
häufig elementare Lebensrisiken ab; deshalb kann der verweigerte Vertragsschluss
für den Benachteiligten schwerwiegende Auswirkungen haben.
Was die Festlegung von Prämien und die Gewährung von Leistungen durch
Versicherungen angeht, legt § 20 Abs. 2 AGG die Voraussetzungen fest, unter denen
die Versicherungen eine Behinderung als Differenzierungsmerkmal bei der
Risikobewertung heranziehen dürfen. Das bedeutet, dass bei der Vertragsgestaltung
(insbesondere der Prämien- oder Leistungsbestimmung) die Berücksichtigung
individueller Risiken grundsätzlich möglich bleibt. Die Einbeziehung einer
Behinderung bei der Festlegung der Prämien und Leistungen muss jedoch auf
anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruhen, insbesondere auf einer
versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung
statistischer Erhebungen.
Der Begriff „anerkannte Prinzipien risikoadäquater Kalkulation“ kann als eine
Zusammenfassung der Grundsätze gesehen werden, die von
Versicherungsmathematikern bei der Berechnung von Prämien und
Deckungsrückstellungen anzuwenden sind.
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Welche Ansprüche kann der Diskriminierte geltend machen?
Die Frage, welche Ansprüche das Opfer von Diskriminierungen geltend machen
kann, richtet sich nach dem Bereich, in dem diskriminiert wurde.
Arbeitsmarkt/Berufsleben
Zunächst einmal stehen dem Diskriminierten verschiedene Beschwerde- und
Leistungsverweigerungsrechte zur Verfügung. Darüber hinaus sieht das Gesetz als
zentrale Rechtsfolge einer Verletzung des Diskriminierungsverbotes einen Anspruch
auf Entschädigung des Betroffenen vor. Die Höhe der Entschädigung muss
angemessen sein. In diesem Zusammenhang stellt die ständige Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes die Anforderung, dass zur Gewährleistung eines
tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutzes eine Entschädigung geeignet sein
muss, eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber zu haben
und auf jeden Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen
muss.
Der Anspruch muss innerhalb einer Frist von zwei Monaten geltend gemacht werden.
Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, an dem der oder die Benachteiligte von der
Benachteiligung Kenntnis erlangt. Im Fall einer Bewerbung oder eines beruflichen
Aufstiegs ist das der Zeitpunkt des Zugangs der Ablehnung durch den Arbeitgeber.
Zivilrechtliches Diskriminierungsverbot
§ 22 AGG regelt Ansprüche bzw. Rechtsfolgen nach einem Verstoß gegen das
zivilrechtliche Benachteiligungsverbot. Der Diskriminierte hat Anspruch auf
Beseitigung und Unterlassung oder auf Ersatz materieller Schäden bzw.
Entschädigung für Nichtvermögensschäden. Die Sanktionen müssen hierbei wirksam,
verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Entschädigung muss in einem
angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen und über einen
symbolischen Schadensersatz hinausgehen.
Die Ansprüche müssen innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntwerden der
Diskriminierung geltend gemacht werden
An wen kann ich mich wenden?
Beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird als zentrale
Anlaufstelle eine Antidiskriminierungsstelle eingerichtet. Betrifft eine Diskriminierung
das Merkmal Behinderung, so leitet die Antidiskriminierungsstelle den Fall zur
Bearbeitung an die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter
Menschen weiter.
Zu den Kernaufgaben der Antidiskriminierungsstelle gehört die Unterstützung für von
Diskriminierungen betroffene Personen. Diese erhalten durch die
Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein niedrigschwelliges Beratungsangebot zur
Klärung ihrer Situation und zu den Möglichkeiten des rechtlichen Vorgehens. Des
Weiteren hat die Stelle Schlichtungsmöglichkeiten, indem sie eine gütliche Beilegung
von Diskriminierungsfällen zwischen den Beteiligten anstreben kann. Zur Erfüllung
dieser Aufgaben kann die Stelle unter bestimmten Voraussetzungen die Beteiligten
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um Stellungnahmen ersuchen und hat gegenüber Bundesbehörden ein
Auskunftsrecht.
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